Tatsächlich wurde ich eingeladen zu essen. Das Ehepaar, das uns rettete, war das Ehepaar Mohr aus Missunde. Ein kleiner Fischerort, keine zwanzig Häuser, viele dem Gut Ornum zugehörig. Die beiden guten Leute, die uns aufnahmen, hatten alle drei Söhne in deutsch-dänischen Gefechten verloren. Bei warmer Milch und Butterbrot erzählten sie uns von diesem Leid. Sie hatten viel zu geben und Helle-Lene bedurfte dieser Fürsorge, denn tatsächlich lag sie auf den Tod in der Kammer und wir wussten nicht, ob Gott sie zu sich holen würde oder nicht. Selbst die Kartoffelwickel, die Salzlösungen und der Salbeitee von Frau Mohr halfen nicht. Helle-Lene lag vier Tage im höchsten Fieber. „Helle-Lene“ sagte ich, als Frau Mohr nach ihrem Namen fragte und dann entzückt ausrief: „Helene, was für ein schöner deutscher Name!“ und ich fand, dass Schweigen an dieser Stelle ebenso unschädlich wie freundlich war. Als ich Ihr sagte, mein Name sei Ivens Eibe-Lund, füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Eibenlund − ein kleines Waldstück nur aus Eiben − wie klangvoll und schön deutsch!“ Es ist unwiderstehlich und gleichermaßen erstaunlich, wie schnell und beweglich sie den dänischen Begriff „Lund“ zu einem deutschen Namen machte. Mir schien, die Kluft zwischen den Abstammungen konnte so groß doch wohl nicht sein, aber es ist nie die Haltung des Einzelnen, sondern der Einfluss von Macht und Eitelkeit, der das Unglück über die Menschen hereinbrechen lässt. Ich brachte es nicht über das Herz, Ihr die Wahrheit über unsere nur halb-deutsche Herkunft zu sagen. Die Mohrs fragten uns auch nie danach. Frau Mohr pflegte Helle-Lene mit größter Sorgfalt und Zuwendung und selbst der zu Rate gezogene Doktor, der das Kind schon aufgegeben hatte, er sprach von einer schweren Pneunomia, war überrascht, was Zuneigung alles ausrichten konnte im Kampf gegen körperliche Beschwerden. Helle-Lene wurde gesund. Sie war danach noch wochenlang schwach, aber sie lebte und sie wollte leben und vor allem: Sie wollte hier leben. Fernab von Krieg, Vertreibung, Verschwörung und Verderbtheit, sie wollte hier bleiben bei den Mohrs und nicht nur Ihr Leben, sondern auch das der alten Leute reich machen. Was sollte ich tun? Abschied nehmen? Ich brachte es nicht über das Herz. Und als ich einmal die gute Frau Mohr am Zaun stehen sah, wie sie sich mit einer Nachbarin unterhielt, öffnete ich leicht die Türe und hörte noch, wie sie der Frau erklärte, Ihr guter Herrmann sei auf dem Weg zur Herrschaft auf Ornum, um die Erlaubnis zu erhalten, die Kinder seiner Nichte, Ivens und Helene Eibenlund, nach der Mutter Tod aufzunehmen. Und das war das!
So schnell nahm das Leben seinen Lauf und wir hatten nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern waren überdies im Handumdrehen Bruder und Schwester geworden und hatten Großonkel und Großtante dazu gewonnen. Vor dem Einschlafen rief ich mir immer ins Gedächtnis, meinem Pastor Eler zu schreiben und mich ihm anzukündigen, aber dieses Vorhaben geriet irgendwie in Vergessenheit. Wir waren in Missunde doch recht zufrieden, auch wenn die deutsch-dänischen Verhältnisse immer noch nicht geklärt waren und es gerade hier in Missunde, der engen Stelle der Schlei, immer wieder zu Gefechten kam.
Die Jahre vergingen. Mit 13 Jahren war ich zu den Mohrs gekommen, ich feierte auch meinen 28. Geburtstag bei ihnen. Die beiden waren nun schon fast an die 90 Jahre und wir waren wie ihre Kinder. Helene war eine reizende und tüchtige Frau geworden. Das dicke, blonde Haar band sie an Werktagen zu einem schweren Zopf, an den Feiertagen lagen sie in einem hübschen Kranz um ihren Kopf. Von ihrer Pneunomia hatte sie sich gut, aber nie ganz erholt. Ihre Lungen blieben anfällig, ihre Konstitution zart, ihre Gesichtsfarbe hell, fast durchsichtig. Aber sie war klug und in der Lage, der alten Frau Mohr inzwischen fast alles im Haushalt abzunehmen.
Weihnachten 1863 ahnte der alte Herr Mohr bereits, dass sein Leben nicht mehr lange währen würde, denn unter dem Christbaum riet er uns, Missunde zu verlassen und in die geschützteren Landesteile im Inneren des Herzogtums zu fliehen. „Es wird wieder einen Angriff geben“, sagte der alte Mohr und er wünsche nicht, dass ich eingezogen werde. „Ich habe drei Kinder hergegeben, ich werde keinen vierten opfern!“, sagte er bestimmt. Die Vorstellung, unser Zuhause zu verlassen, war für Helle-Lene und mich fast unerträglich. Der alte Mohr sah uns aufmunternd an: „Ihr müsst weggehen, denn hier würdet Ihr immer als Bruder und Schwester leben müssen, wenn wir nicht mehr sind“, zwinkerte er mir zu. Unsere weise Familie wusste offenbar schon lange darüber Bescheid, in welcher Weise Helle-Lene und ich uns inzwischen zugetan waren. Aber verlassen wollten wir die beiden dennoch nicht.
So kam es, dass wir beide den 2. Februar 1864 und die Schlacht in Missunde vor Ort erlebten. Theodor Fontane wird einmal schreiben: „Es floss viel Blut in Missunde“ und so war es auch. 38 dänische und 33 preußische Soldaten fanden den Tod, die Missunder Häuser wurden fast alle im Zuge des Kanonierens zerstört und erst in den Folgejahren durch die Herrin auf Ornum wieder aufgebaut. Zur Erinnerung an die Schrecken findet Ihr heute in den Häuserfronten des Orts die dänischen Kanonenkugeln eingelassen und daneben die Jahreszahl 1864 und die Initialen von Julie Mylord, die die Häuser wieder errichten ließ. Das Haus der Mohrs ging in Flammen auf, und mit ihm der alte Herr Mohr, der sein Haus nicht mehr verlassen wollte.
Indessen leistete ich für das preußische 15. Infanterie-Regiment gute Dienste und Frau Mohr starb in einem Waldstück bei Ornum in den Armen von Helle-Lene vor Angst und Traurigkeit. Als die Kanonen abgeschossen, die Feuer gelöscht und das Ausmaß der Verwüstung erkannt war, baute man in Ornum die Häuser wieder auf. Viele hatten viel, mache alles verloren. Helle-Lene und ich zählten uns zu den Ersten. Ich erinnerte mich an den Strand vor Eckernförde, nach der großen Schlacht am 5. April 1849 als wir Kinder feststellten, dass man deutsche oder dänische Soldaten äußerlich gar nicht unterscheiden könnte, würden sie keine Uniform tragen. Hier war es genauso. So viele junge Männer, die Ihr Leben ließen und doch unter Blut und Schmutz sich ähnelten wie Brüder. Ich war dabei, als 12 der preußischen Soldaten hier in der Nähe des größten natürlichen Wasserlaufs der Halbinsel Schwansen „ohne Sang und ohne Klang“ begraben wurden. Resigniert schaufelte ich ihre Gräber. Ich könnte euch viel über meine Rolle − und sie war bedeutend! − in diesen Handlungen erzählen, aber das mache ich dann ein anderes Mal!
Findet das Grab, das Ivens für seine Kameraden geschaufelt hat!
Der größte natürliche Wasserlauf der Halbinsel Schwansen ist die Koseler Au.
Einst trieb sie die Ornumer Wassermühle an.